Alte Post

Letzten Sommer hat eine alte Freundin von mir bei sich auf dem Dachboden alte Post von mir entdeckt. Sie stammen aus dem Jahr 1998, bevor ich nach Australien ging, bevor meine Einweihung bei den Aborigenese stattfand, bevor ich mich auf die spirituelle Reise begab, aus der Neoligion und die Merlenwelten hervorgegangen sind. 18 Jahre ist das nun her. Heute vor achtzehn Jahren war ich in Cairns, machte meine Rettungstauchschein. Und schaute auch die 70. Oscarverleihung vom 23.03.

Ich bin ein bißchen verliebt in meine früheres, mein 22-jähriges Selbst. Damals stand ich noch sehr stark unter dem Einfluss meiner Krebserkrankung. Was ich erst durch meine schamanische Einweihung dann in Kontext setzen und auflösen konnte.

Montag, 19. Januar ’98

   Der Storch bringt nicht nur die Kinder, sonder auch die Post. Zumindest habe ich das lange Zeit geglaubt. So naiv bin ich heutzutage natürlich nicht mehr. Des Storches kleiner Bruder, die Taube, ist für die Briefe zuständig.  Und die Kinder? Tja, das habe ich im Medizinstudium gelernt. Selbstverständlich bringt der Storch die Babys! Die Ärzte passen auf, daß sie weich fallen. Und gemeinsam mit den Hebammen führen sie dann einen uralten (natürlich geheimen) Zaubertrick vor. Die Frauen glauben, das Kind würde aus ihnen schlüpfen. Der psychologische Effekt stärkt die Mutter-Kind-Beziehung; eine unentbehrliche Stütze unserer Gesellschaft. V.a. heutzutage wo alle egoistischer und egozentrischer werden. 

  In seine Decke eingepackt liegt Fallet im Bett. Er hört Radio, schaut seinen Pflanzen beim Wachsen zu. Der Globus auf seinem Nachttisch zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Fallet dreht ihn und träumt vom Urlaub: Mit dem Pferd über Island reiten. Mit einer Expedition sich durch den Dschungel schlagen. Auf einem Kamel die Wüste durchqueren. Schamanen bei ihren Zeremonien besuchen. Wie die Känguruhs durch Australien hüpfen, Wälder mit Wellensittichen und Papageien besuchen, vielleicht einen Koala-bär in einem Eukalyptusbaum erspähen. Tauchen in den Gewässern Indonesiens. Früher hatte Fallet immer vorgehabt, eines Tages nach Indien zu radeln. Er schaut sich nochmals die geplante Route an. Vielleicht schafft er es ja noch in diesem Leben. 

   Der süße Duft seiner flackernden Bienenwachskerze entreißt ihn aus seiner noch süßeren Traumwelt. Sein Blick bleibt auf dem Haufen von Medizinbüchern haften, der den Rand seines Bettes säumt. Eigentlich müßte er ja lernen. Aber er kann nicht! Sein Stoffhund „Wotan“ sitzt aufrecht in der Ecke und bewacht mit scharfem Blick die Bücher. Niemanden läßt er dort ran. Nicht einmal sein Herrchen. Und bevor es zum Streit kommt…. Die Zeitung hat er schon gelesen. Eine Zeitschrift? Spektrum der Wissenschaft vielleicht? Zu anspruchsvoll. Thomas Manns „Zauberberg“ ist ihm im Augenblick auch zu anstrengend. Richard Bach, Terry Pratchett, T.C. Boyle – nein, lesen will er gerade nicht. Oder wie wär’s mit William Blake? Nein, dazu müßte er aufstehen. Deshalb hört er auch Radio und nicht CD; um nicht aufstehen zu müssen. 

Ein Schluck O-Saft; Vitamine machen fit. Plötzlich weiß Fallet, was er will. Er schiebt den Teller, auf dem noch ein Klecks Ketchup klebt, beiseite, zieht den Aschenbecher ans Bett heran. Die Kippen sind natürlich nicht fern, die Streichhölzer auch nicht. Er könnte natürlich die Kerze benutzen, um dem Glimmstengel Leben zu spenden – aber dabei stirbt bekanntlich ein Seemann. Und heute will er seine Hände nicht mit Blut beflecken. 

Gleich verlasse ich mein warmes Nest. Es geht ins Spleen, eine kleine Kneipe am Botansichen Garten in Poppelsdorf. Nach einem Anatomietestat treffen sich dort die Medizinstudenten; um den überstandenen Streß zu vergessen oder zu begießen. Ich muß nach meinen „Schützlingen“ schauen. Und mich auf ein, zwei Bier einladen lassen. Die Abende dort sind immer recht amüsant. Lange bleibe ich jedoch nicht. Ich muß mich ja dann noch hinter’s Steuer klemmen – und Willi und mich sicher heimbringen. Morgen steht ja auch wieder ein langer Tag bevor. 

  Schon wieder ist ein Tag nahezu um. Ich finde es manchmal erschreckend, wie schnell die Zeit doch vergeht. Tja, und durch den Brief habe ich Dir auch ein wenig Zeit gestohlen. Zeit, in der Du nicht lernen kannst, nicht stricken oder fernsehen kannst. (Streich letzteres; wahrscheinlich läuft die Glotze gerade nebenher)

M., mach’s gut et a bientot!                   

Fallet

Eine Woche später, folgte ein weiterer Brief. Beide im Jahr des Feuerbüffels (7. Feb 97 bis 28. Jan 98).

Montag, 26. Januar ’98

 Cool, einen Vorwand nicht zu lernen ist gefunden. Du hältst ihn in Deinen Händen. Man könnte es auch eine (wohlverdiente?) Pause nennen. Es ist schon verrückt; Ich würde so gerne all das wissen, was ich für’s Physikum können muß: Anatomie, Biochemie, Physiologie, Psychologie… Mich interessiert es und ich finde es wahnsinnig faszinierend und spannend. Deswegen studiere ich in erster Linie ja auch Medizin und nicht, weil ich irgendwelchen Leuten großartig helfen oder wichtig im weißen Kittel durch’s Krankenhaus rennen will. Aber trotzdem fällt es mir schwer, mich auf meinen Hintern zu pflanzen und konzentriert zu lernen. Ich lege mich lieber auf mein Bett und döse vor mich hin. 

 Und so hoffe ich, daß ich in den kommenden sechs Wochen noch all das in meine Birne reinstopfen kann, was ich in den vergangenen zwei Jahren hätte aufnehmen sollen. Eigentlich bin ich aber recht zuversichtlich, auch wenn ich gerne mal über den Streß jammere. 

  Gerade beschäftige ich mich mit Psychologie, nächstes Kapitel: „Lernen“. Ich bin ja mal gespannt, was die dazu zu sagen haben. 

  Soeben habe ich zum x-ten Mal meine letzte Zigarette im Aschenbecher ausgedrückt. Wie lange ich wohl diesmal durchhalten werde?! Mir schmeckt der Rauch eigentlich schon lange nicht mehr; aber ich rauche gern! Am liebsten beim Autofahren oder gemütlich zuhause bei einer Tasse Kaffee. Oder zum Telefonieren. Oder zum Wachwerden. Beim Warten vergeht die Zeit schneller. 

   Wie dem auch sei, ich muß mich einfach immer wieder daran erinnern, wieviel Geld ich doch spare, wenn ich die Zigaretten im Automat lasse. Da wird jeder Schwabe schwach. Vielleicht könnte ich einen Bausparvertrag damit finanzieren. 

   Apropos Sucht: Habe ich Dir eigentlich erzählt, daß ich früher (als ich in Lyon wohnte), jedes Wochenende auf der Pferderennbahn und mittwochs immer beim Buchmacher war? In der Zeit bin ich ganz schön arm geworden. Sonntag abends gab’s dann immer Pferdesteak, dazu einen leckeren Roten – zum Trost. 

  Aber lassen wir die Vergangenheit ruhen. Ich hasse es, wenn Leute Sätze anfangen mit „Hätte ich doch damals“ oder „Wenn damals…“. Daran ist nicht mehr zu rütteln. Das muß man einfach akzeptieren und den Blick nach vorne richten. 

   Blablabla, lauter belangloses Zeug, genug geschwafelt, Zeit sich wieder auf die Bücher zu stürzen. (Oder soll ich lieber schlafen?) Heute bin ich wohl nicht so in Schreibstimmung, mir fehlt die Kreativität und die Inspiration. Vielleicht ist Neumond – da waren meine Patienten im LKH auch immer „leerer“. Ich wollte einfach mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: 1. Die eine kleine Freude machen; 2. Mich vom Lernen abhalten; 3. Der Post was zu tun geben; 4. Einen Grund haben, nochmal an die frische Luft zu kommen; 5. Schriftlich festhalten, daß ich mit dem Rauchen aufgehört habe; 6. … 

   Mist! Nur fünf auf einen Streich, die sechste konnte entkommen. Ein andermal vielleicht. 

  Bis dann, Fallet 

Das Physikum hatte ich dann um ein Semester verschoben, war März/April in Australien. Und dort öffnete sich mir dann eine neue Welt. Kurz vor meiner Rückkehr schrieb ich dann noch eine Postkarte von „down under“.

Da wacht man eines morgens auf und stellt fest, daß man sich auf der anderen Seite des Globus befindet. Das Leben schlägt manchmal überraschende Wege ein. Leider ist meine Zeit fast schon wieder um – und ich muß nach Hause. Aber vielleicht treffen wir uns dann ka mal. Schade, daß der Kontakt abgebrochen ist. Alles Liebe und bis bald! Fallet

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